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29. Oktober – 17. Dezember 2011

Gabriela Gerber & Lukas Bardill | »Avenue«

Brutstätten für Märchen

In Zusammenarbeit mit der Churer Galerie Luciano Fasciati zeigt Paul Hafner die Ausstellung »Avenue« des Künstlerpaares Gabriela Gerber und Lukas Bardill.

Genauso sinnlich, wie es zu Beginn dieses Jahres war, ist es natürlich nicht. Nicht so natürlich, wie damals im Schnee, als man in der Abenddämmerung durch frischen Schnee stapfte und die Verzauberung bereits eintrat, als man von weitem diffuse Lichtstreifen wahrnahm, die wie scharfe Schnitte die einbrechende Nacht durchtrennten. Auch wenn man genau wusste, was einen dort erwartete, nämlich die Kunstinstallation im offenen Feld bei Grüsch im Prättigau, machte sich beim Anblick der von innen hell beleuchteten Scheunen die Phantasie breit: was da drin alles vor sich gehen könnte! Brutstätten für Grüscher Waldschrättli; Operationssäle für im Verkehr verunglückte Rehe auf der sehr nahen Umfahrungsstrasse; Treffpunkte für Jäger, ein Ort für ein Stelldichein der örtlichen Nussknackergesellschaft.

Landschaftsfragmente
In der langen Reihe entlang eines Feldweges stehen zwölf Holzhütten auf den sogenannten Schwellenen, dem wirtschaftlich genutzten Talboden im vorderen Prättigau. Hier wurde vor 100 Jahren durch die Begradigung der Landquart wertvolles Kulturland gewonnen. Das Land wurde parzelliert und den Bauern zur Nutzung überlassen. Die Scheunen, oder die Bargaunen, wie man sie im Prättigau nennt, dienten hauptsächlich zur Lagerung von Futter. Heute – der Wandel der Landwirtschaft hat auch hier seine Schattenseiten – sind viele dieser Scheunen am Zerfallen.
Für die beiden Künstler Gabriela Gerber und Lukas Bardill waren sie Objects trouvée der besonderen Art. Das mehrfach ausgezeichnete Künstlerpaar aus Maienfeld stellt in seinen Fotoserien und Videoinstallationen gerne Verbindungen her zum Ländlichen und sucht die Kontraste zu den entfremdeten Konsummenschen der Metropolen. In verspielten Choreographien, weit entfernt von einer nostalgischen Verklärtheit, schaffen sie imaginäre, transzendente Augenblicke. Das helle Licht, das durch die Ritzen der vertikal angeordneten Bretter dringt, irritiert und regt zum Nachdenken an. Das Dunkle, Vergessene scheint überwunden. Zerfallendes erhält eine neue Dimension der Betrachtung. Verwandelt sich gar in Schönheit. Wir befinden uns im Ausnahmezustand des (Er-)leuchteten.

Eigentümliche Reflexe
Die Intervention in Grüsch kam wie eine Inszenierung daher, die Darsteller in dem Stück waren wir, das Publikum. Man ertappte sich dabei, wie man einen Blick zwischen die fensterlosen Bretterwände zu werfen versuchte, wie man aufhorchte – ob da nicht eben Stimmen waren? –, wie man stillstand, um eine mögliche Bewegung festzustellen. Trainierte Sinne und Reflexe waren auf eine Handlung eingestellt, doch es passierte nichts. Da war nur dieses Licht, die Silhouetten der Holzbauten, der sich verdunkelnde Himmel, der Schnee, die kalten Füsse, und Augenblicke vollkommener Stille. Man war unmittelbar berührt von der in die Gegenwart übertragene und in Kunst übersetzte Kulturgeschichte. Parallel zu der begehbaren Installation zeigte Luciano Fasciati in seiner Churer Galerie die stimmungsvolle Fotoserie zu »Avenue«, welche jetzt Paul Hafner in seiner Galerie übernommen hat.

Neues Leben
Zum fehlenden »Gespür für Schnee« unter den Füssen gesellt sich nun die Freude und erneute Begeisterung. Hafners Kunstraum kommt der Ästhetik der Werkserie entgegen, nimmt sie geradezu auf in konspirative Wärme und Lichtgestaltung. Die Scheunen wirken hier abermals magisch, anziehend, geheimnisvoll. Wie Raster von Licht und Schatten, wie geklöppelte Schmuckbänder auf dunkler Haut.
Speziell für St. Gallen gibt es mit der Unterstützung des Kunstmuseums St. Gallen in einem extra hiefür abgetrennten Raum die Videoarbeit »Labor« zu sehen. Die Projektion auf Inkjet-Print präsentiert sich wie die Innenansicht einer der Scheunen: vor den aufeinander getürmten Strohballen, im Lichtkegel der Kamera ein Kommen und Gehen von Mäusen. Ein wahrer Lebenstrost.

Brigitte Schmid-Gugler
St.Galler Tagblatt | 15. November 2011